Weiße Feder und Blaue Feder

 

Die warme Sommersonne schien „Blaue Feder“ direkt in die Augen, als er durch die niedrige Öffnung des Familienwigwams stieg. Er hielt sich die Hand über die Augen, um etwas sehen zu können und drehte sich um. Ihm folgte seine Zwillingsschwester „Weiße Feder“. Beide Kinder setzten sich auf die Rückseite in den Schatten des Zeltes und schauten sich ratlos an. Ihre Mutter lag seit Wochen krank auf ihrem Lager und hatte den Wigwam seit Tagen nicht mehr verlassen. Auch die Medizinfrau des Stammes versuchte alles in ihrer Machtstehende, um ihr zu helfen, aber es gelang nicht.

 

Der Vater der beiden Kinder war bei der Büffeljagd vergangenen Winter schwer verletzt worden und starb ein paar Tage später in den Armen seiner Frau. Seitdem war die Mutter nicht mehr dieselbe. Sie vermisste ihren geliebten Mann sehr und trauerte viele Monde, aber der Schmerz, der tief in ihrem Herzen saß, wollte und konnte nicht gehen.

 

Wie die Kinder nun so schweigend im Schatten hockten, kletterte die Medizinfrau durch die Öffnung des Zeltes nach draußen und schaute sich suchend um. Dann entdeckte sie die Kinder, setzte sich zu ihnen und sprach: „Eure Mutter hat eine so große Sehnsucht nach Eurem Vater, dass ihr Herz sehr krank geworden ist. Sie braucht eure Hilfe, sonst wird auch sie sterben.“ „Und wie soll das gehen?“, fragte Blaue Feder verzweifelt.

 

„Ich habe in der vergangenen Nacht Besuch von der Seele eines Busches bekommen“, antwortete die weise Frau. „Er steht hier in unserem Wald auf der grünen Lichtung, die von hohen Kiefern umringt ist und trägt kleine rote süße Beeren. Ihr sollt einen Korb voll davon pflücken und zu eurer Mutter bringen. Dabei werdet ihr eine Aufgabe zu lösen haben, die sehr wichtig für die Genesung eurer Mutter ist.“ „Was ist das für eine Aufgabe?“, fragte Weiße Feder. „Das hat mir der Busch leider nicht verraten. Nun macht euch auf den Weg und nehmt diesen kleinen Korb mit.“

 

Blaue Feder hängte das Weidekörbchen über seinen Arm und nahm seine Schwester bei der Hand.

 

So liefen die Kinder in den nahen Wald und fanden auch bald die Lichtung mit dem Busch. Seine roten Beeren dufteten süß und leuchteten in der Sonne. Weiße Feder und Blaue Feder pflückten eifrig die Beeren und nachdem das Körbchen gefüllt war, wollten sie sich auf den Heimweg machen. Da raschelte es hinter einer der Kiefern und eine alte Indianerin trat auf die Lichtung. Sie hatte grüne zerschlissene Gewänder an und trug auf dem Kopf einen bunten Blumenkranz. Ein Duft von Sommerblumen und frischen Kräutern ging von ihr aus und sie winkte die Kinder zu sich heran.

 

Ein wenig schüchtern näherten sie sich der alten Frau und warteten ab, was sie ihnen zu sagen hatte. (Indianische Kinder wissen, dass sie zu warten haben, bis die Alten das Wort an sie richten. Außerdem sprechen sie diese aus Respekt immer mit Großmutter oder Großvater an.)

 

Die alte Indianerin lächelte und beugte sich ein wenig vor, dann begann sie zu sprechen: „Ich bin seit Sonnenaufgang unterwegs und auf der Suche nach diesen wunderbaren Beeren. Seitdem habe ich nichts mehr gegessen. Mir ist schon ganz schwindelig vor lauter Hunger. Bitte gebt mir ein paar von euren Beeren, damit ich wieder zu Kräften komme.“

 

Die Kinder schauten sich an und dann auf den gefüllten Korb. Weiße Feder erzählte der alten Frau von der kranken Mutter, dem Traum der Medizinfrau und, dass sie die Beeren nun schnell nach Hause bringen müssten. Aber da erinnerte sie sich an das, was die Medizinfrau noch gesagt hatte und hielt der alten Indianerin den Korb hin. „Hier Großmutter. Nimm so viele Beeren, wie du magst und iss dich satt. Mein Bruder Blaue Feder und ich sammeln neue für unsere Mutter. Es sind genug für alle da.“

 

Die alte Frau nahm den Korb und lächelte die Kinder an. Gerade als die Geschwister sich auf den Weg zu dem Busch machen wollten, rief die Indianerin sie zurück und hielt ihnen geheimnisvoll lächelnd wieder den vollen Korb hin. Sie hatte keine der Beeren auch nur angerührt.

 

„Ich danke euch für eure Hilfe, aber nehmt bitte die Beeren wieder zurück. Mir geht es jetzt schon viel besser.“ Blaue Feder nahm den Korb entgegen und warf seiner Schwester einen leicht erstaunten Seitenblick zu. „Da ihr beide so großzügig und guten Herzens seid, habe ich ein Geschenk für euch.“ Die Indianerin griff in ihre Tasche, die sie unter ihren Gewändern trug und hielt zwei wunderschöne, wohlduftende Blumen in der Hand. Weiße Feder gab sie die weiße und Blaue Feder die blaue Blume. „Gebt gut acht auf diese Blumen und kümmert euch gut um sie. Sie haben für euch und euren Stamm eine wichtige Bedeutung. Und merkt euch, streitet nie, sondern seid immer gut miteinander. Vergesst das niemals!“.

 

Die Kinder verabschiedeten sich von der alten Frau und liefen nach Hause.

 

Aufgeregt und außer Atem kletterten sie in den Wigwam. Ihre Mutter setze sich leicht auf. Blaue Feder hielt ihr den Korb mit den Beeren hin. Sogleich nahm die Mutter eine davon, steckte sie sich in den Mund und genoss sie mit geschlossenen Augen. Die Kinder schauten sie erwartungsvoll an.

 

Ein leichter Hauch des Duftes von Sommerblumen und Kräutern wehte durch das Zelt. Die Mutter öffnete ihre Augen und lächelte froh, schlug das Fell, das ihr als Decke diente, zurück und stand auf. „Kinder, ich danke euch für diese wunderbaren Beeren. Sie haben mir geholfen, dass ich euren Vater gehen lassen kann. Mein Herz ist geheilt. Aber wo habt ihr diese Beeren gefunden? Und was sind das für zauberhafte Blumen, die ihr in den Händen haltet?“

 

Die Kinder konnten es erst nicht glauben, dass ihre Mutter wieder genesen war. Dann aber umarmten sie sie laut jubelnd. Eng an die Mutter gekuschelt, erzählten sie ihr die Geschichte von dem Traum der Medizinfrau, die eine Nachricht von der Seele des Busches erhalten hatte und von der alten Indianerin und den Blumen, die die Geschwister als Geschenk bekommen hatten. Ihre Mutter hörte ihnen aufmerksam zu und drückte ihre Kinder liebevoll an sich.

 

So vergingen ein paar Wochen und die Geschwister kümmerten sich gut um ihre Blumen. Sie stritten nicht und verbrachten die Tage meist zusammen. Aber eines nachts hatte Weiße Feder einen bösen Traum, in dem Blaue Feder ihre weiße Blume gestohlen und die Blütenblätter ausgerissen hatte. Dabei lachte er hämisch und behauptete, dass seine Blume die schönste und die einzige Blume wäre, die es in ihrem Wigwam geben dürfte. Das machte Weiße Feder traurig und wütend zugleich.

 

Mit dieser Wut im Bauch wachte sie auf und drehte sich zu ihrem Bruder um. Der schlief noch tief und fest. Das Mädchen ruckelte unsanft an seiner Schulter. „Los wach auf, Blaue Feder, du Blumenmörder“, raunzte sie ihn an. Blaue Feder öffnete seine Augen und sah seiner wütenden Schwester ins Gesicht. Er war hundemüde und verstand die Welt nicht mehr. „Ach, lass mich doch in Ruhe. Was du schon wieder geträumt hast“, sagte er und versuchte sich umzudrehen, aber Weiße Feder hielt ihn fest. Daraus entwickelte sich ein Handgemenge und zum Schluss stritten die Kinder heftig miteinander.

 

Die Mutter war schon früh aufgestanden, um Wasser und Holz zu holen. Sie hörte den Lärm und kletterte ins Zelt. Da sah sie ihre streitenden Kinder und schrie entsetzt auf, als ihr Blick auf die Blumen fiel. Blaue Feder und Weiße Feder hielten augenblicklich inne und auch sie erschraken.

 

Die Blumen waren beide schwarz geworden und vertrocknet standen sie in ihren Gefäßen. Plötzlich hörten sie wie draußen die Mitglieder des Stammes anfingen, sich lauthals auf das ärgste zu beschimpfen und drohten nie wieder ein Wort miteinander zu sprechen.

 

Da erinnerten sich die Geschwister, was die alte Indianerin ihnen gesagt hatte und begannen fürchterlich zu weinen. Ihre Tränen fielen auf die Blumen, die sie in den Händen hielten und es tat den Kindern unendlich leid, dass sie sich gestritten hatten.

 

Weiße Feder streckte ihre Hand nach ihrem Bruder aus und die Kinder nahmen sich in die Arme. In dem Moment wehte wieder ein leichter Hauch des Duftes von Sommerblumen und Kräutern durch das Wigwam und die weiße und die blaue Blume richteten sich auf. Sie waren wieder voller Leben.

 

„Schaut, was mit den Blumen passiert ist“, rief ihre Mutter erfreut aus, die ihren Kindern nur zugeschaut hatte, da sie erkannte, dass dies eine neue Prüfung war, die Blaue und Weiße Feder zu bestehen hatten. In Gedanken dankte sie der alten weisen Frau dafür.

 

Von da ab an, stritten die Geschwister nie mehr und kümmerten sich gut um ihre Blumen. Sie dankten jeden Abend der alten weisen Indianerin, bevor sie schlafen gingen und die Leute ihres Stammes lebten für immer in Frieden miteinander.

 

 

Silke Müller-Uloth September 2018