Anton und Rabenfeder

 

Hallo, ich heiße Anton, bin 12 Jahre alt. Im August komme ich in die 8.Klasse.

 

Vor ein paar Wochen ist mir etwas ganz Schräges passiert, so dass ich euch unbedingt davon erzählen muss.

 

Wir waren vor drei Wochen für fünf Tage auf Klassenfahrt auf Schloss Noer an der Ostsee. Das ist ein echtes Schloss, das zu einer Jugendherberge umgebaut wurde, mit einem riesigen Park mit uralten Bäumen und direktem Zugang zur Ostsee. In dem Schloss gibt es einen Ballsaal, der sieht noch aus wie vor hunderten von Jahren mit seinen echten Kronleuchtern und Malereien unter der Decke, den hohen Holzfenstern und den großen Gemälden an den Wänden. Es hängen sogar echte Schwerter, Degen und Helme an der Wand. Die Luft in dem Saal riecht förmlich nach Geschichten. Da kann man sich gut vorstellen, dass es dort um Mitternacht spukt.

 

Wir Jungs waren alle zusammen in einem großen Schlafsaal mit Etagenbetten untergebracht. Und ratet mal, mit wem ich sozusagen mein Bett teilen musste? Ausgerechnet mit Erwin. Zum Glück bestand er darauf in dem oberen Bett zu schlafen, weil er nicht unter meinem Mief liegen wollte und kleine Jungs könnten ja nachts aus dem Bett fallen, waren seine Kommentare. Mir war das nur Recht, so konnte ich mich in mein Bett verkriechen und zur Wand drehen, wenn mich die anderen Jungs wieder zu sehr ärgerten. Außerdem brauchte ich dann auch nicht an Erwin vorbei zu klettern, wenn ich an meine Sachen wollte.

 

Es war von Dienstag auf Mittwoch als ich mitten in der Nacht aufwachte. Alle anderen Jungs schliefen tief und fest, denn es war mal wieder spät geworden, bis endlich Ruhe in unseren Schlafsaal eingekehrt war. Ein wenig benommen, lauschte ich in die Dunkelheit und hörte wie die nahe Kirchturmuhr 12 Mal schlug – Mitternacht. Und dann vernahm ich noch ein Geräusch, das einem leisen Trommeln ähnelte. Dann hörte es für einen Augenblick auf. Das konnte nicht sein und ich spitzte noch mehr meine Ohren, um noch besser hinhören zu können.

 

Mittlerweile war ich hellwach. Und dann begann das Trommeln wieder, nur dieses Mal waren die Schläge schon lauter zu hören und klangen intensiver. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass die Trommel mich magisch anzog, obwohl es mir unheimlich vorkam und ich ein unangenehmes Kribbeln in meiner Bauchgegend fühlte.

 

Trotz aller Warnzeichen, schlug ich leise meine Bettdecke zurück und stieg langsam und vorsichtig aus meinem Bett. Ich konnte meinen Herzschlag in meinen Ohren hören, aber die Neugierde siegte und ich schlich auf leisen Sohlen an den Betten der anderen Jungs vorbei zur Zimmertür. Die Klinke drückte ich ganz langsam nach unten und öffnete die Tür nur einen spaltbreit. Dann huschte ich schnell hindurch in den Flur und schloss die Tür sofort wieder leise hinter mir.

 

Der Flur war nur spärlich beleuchtet, und ich hörte immer noch das Trommeln, nur das sich jetzt ein leises Summen dazu gesellte. Beides schien aus dem Erdgeschoß zu kommen und so schlich ich weiter zur Treppe. Jetzt waren die Trommel und das Summen noch deutlicher zu hören. Langsam und vorsichtig stieg ich Stufe für Stufe die geschwungene Holztreppe hinab und spähte in den Korridor, der zum Ballsaal führte. Ich versuchte langsam aus und ein zu atmen, damit mein Herz sich ein wenig beruhigen konnte, aber so richtig gelingen wollte es mir nicht.

 

Die alte Flügeltür zum Ballsaal stand offen und ein flackerndes Licht war im Flur zu sehen. Es sah aus wie ein Feuerschein, der aus dem Raum zu leuchten schien. Das wollte ich nun doch genauer ansehen und, obwohl ich mir fast vor Aufregung und Angst in die Hose machte, ging ich auf Zehenspitzen bis zu der schweren Holztür und versteckte mich hinter dem Türrahmen. Mein Herz schlug mir wieder bis zum Hals als ich ganz vorsichtig mit einem Auge in den Saal spähte.

 

Mitten in dem Ballsaal sah ich in die tanzenden Flammen eines Lagerfeuers, aber ohne dass der Boden verbrannte oder der Geruch von Feuer in der Luft hing. Nur das Knacken des Holzes war zu hören und ab und an flogen ein paar Funken. Und an diesem Feuer saß ein Junge – ein Indianerjunge in Jeans und T-Shirt, barfuß. Er musste so ungefähr in meinem Alter sein. Er war schlank und hochgewachsen, mit langen schwarzen Haaren, die er mit einem kunstvoll verzierten Lederriemen zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Sein schmales markantes Gesicht spiegelte sich im Feuerschein, während er auf der Trommel spielte und dazu sang:

 

„The River is flowing,
The river is flowing, flowing in growing,
the river is flowing back to the sea.
Mother Earth carry me, a child I will always be,
Mother Earth carry me, back to the sea.“

 

Das klang echt gut und mir lief eine leichte Gänsehaut den Rücken runter. Da hörte der indianische Junge auf zu singen und legte die Trommel neben sich.

 

Plötzlich schaute er in meine Richtung und unsere Blicke trafen sich. Ich zuckte merklich zusammen, blieb aber da, wo ich stand. Woher wusste er, dass ich mich hinter der Tür versteckt hielt, schoss mir der Gedanke durch den Kopf. Doch als der Junge mich lächelnd zu sich heran winkte und mir bedeutete, sich neben ihn an das Feuer zu setzen, verflogen meine Angst und Aufregung wie von Geisterhand.

 

Der Junge begrüßte mich mit den Worten: „Hallo Anton, na, kannst du auch nicht schlafen? Komm setz dich zu mir.“ Da wollte ich doch wissen, woher er meinen Namen kannte und was er hier machte und wie er überhaupt heißen würde.

 

Der Junge schaute mir mit einem leicht verschmitzten Lächeln ins Gesicht und antwortete: „Anton, ich kenne dich sehr gut, denn ich begleite dich schon eine ganze Weile, aber ohne dass du mich bisher gesehen oder bewusst wahrgenommen hast. Ich weiß auch von deinen Nöten mit den Jungs aus deiner Klasse und, dass du manchmal gerne so wärest wie Erwin, damit er und die anderen dich endlich in Ruhe lassen. Du hast schon so vieles probiert, um dich zu verteidigen, aber nichts hat bisher geholfen. Gestern Abend haben die Jungs dich wieder geärgert, obwohl du versucht hast ihnen aus dem Weg zu gehen. Anton, ich kann dir helfen, dass diese Schikanen aufhören und dir eine Lösung für das Problem anbieten. Aber natürlich nur, wenn du das möchtest. Ach, übrigens ich heiße Rabenfeder und gehöre zu dem Stamm der Lakota-Sioux Indianer. Wir leben heute im Reservat in South Dakota/USA. Ich bin über 200 Jahre alt und meine Aufgabe ist es unter anderem, Kindern wie dir zu helfen.“

 

Mein Verstand stritt mit meinem Bauchgefühl, als ich Rabenfeders Worte hörte, aber nun war ich schon mal hier und wollte doch wissen, wie ich mich gegen Erwin und seine Clique nachhaltig zur Wehr setzen könnte.

 

Rabenfeder erzählte mir, dass die Männer seines Stammes, am Abend bevor sie auf die Jagd oder auf den Kriegspfad gingen, um das Heilige Feuer tanzten. Dazu spielten sie auf ihren Trommeln und sangen, bis sie in eine Art Trance verfielen. Dann sei ihnen der Geist eines Tieres erschienen, der ihnen alle seine Eigenschaften und sein Wissen zur Verfügung stellte, um mutig und erfolgreich sein zu können. Während des Tanzens verbanden die Männer ihren Geist mit dem Geist des Tieres und konnten so seine Kraft und sein Wissen für sich nutzen, wenn sie Unterstützung brauchten.

 

Das klang ja alles ganz interessant, aber ob das wirklich funktionieren würde? Ausprobieren könnte ich es ja mal, auch wenn das alles hier gerade sehr merkwürdig ist. Schließlich hatte ich nicht mehr viel zu verlieren, so dass es auf einen Versuch mehr oder weniger eh nicht mehr ankam. So dachte ich damals. Aber ich sollte mich gewaltig irren!

 

Als Rabenfeder aufstand, zog er mich mühelos mit hoch. Er nahm wieder seine Trommel in die Hand und erklärte mir, dass ich ihm einfach nur folgen und das nachmachen sollte, was er mir zeigte. Es käme aber nicht darauf an, dass ich ganz genauso tanzte und sänge wie er. Ich würde bestimmt ziemlich schnell meinen eigenen Tanz und meinen eigenen Rhythmus finden.

 

So tanzte Rabenfeder vorweg, sang und schlug dabei die Trommel. Ich folgte ihm zu Anfang noch zögerlich und so tanzten wir gemeinsam um das Feuer. Rabenfeder hatte Recht. Nach ein paar Runden fand ich meinen eigenen Rhythmus. Aber als ich anfing das Gefühl für Raum und Zeit zu verlieren und in eine Art Trance fiel, erschien vor mir ein großer brauner zotteliger Grizzlybär. Er stellte sich auf seine Hinterbeine und war gefühlt fünf Meter hoch. Er trommelte mit seinen Vorderpranken auf seine Brust, fletschte die Zähne und brüllte aus vollem Halse. Wie von Zauberhand gelenkt, spürte ich wie der Bär und ich immer mehr zu einer Einheit wurden.

 

Als die Morgendämmerung heraufzog, hörte Rabenfeder auf zu tanzen und legte die Trommel neben das Feuer auf die Erde. Er machte eine kurze Handbewegung und die Trommel war verschwunden.

 

Noch ein wenig benommen schaute ich ihn an, aber merkwürdigerweise, kam mir alles ganz normal vor. Dann wandte er sich an mich. „Anton, Vater Sonne kündigt schon den neuen Tag für uns an. Es ist jetzt an der Zeit für mich zu gehen. Auch du solltest noch ein wenig schlafen, bevor der neue Tag für dich beginnt. Vielleicht werden wir uns mal wiedersehen. Ich danke dir für dein Vertrauen und ich weiß, dass du alles gelernt hast, was jetzt wichtig ist für dich.“

 

Dann machte Rabenfeder wieder eine kurze Handbewegung und auch das Feuer war verschwunden. Ich bedankte mich bei ihm für seine Hilfe und war doch ein wenig traurig, dass mein neuer Freund nun gehen musste. Wir umarmten uns kurz zum Abschied. Und ehe ich ein Mal blinzeln konnte, war auch Rabenfeder verschwunden. Ich vernahm nur noch ein leises Wort, dass sich wie „Ducktscha“ anhörte. Das sollte wohl „Auf Wiedersehen mein Freund“ bedeuten.

 

Müde und ein wenig erschöpft kehrte ich zurück in den Schlafsaal. Die Jungs schliefen immer noch tief und fest. Leise kletterte ich in mein Bett und kaum hatte ich mich zugedeckt, fielen mir schon die Augen zu.

 

Wir alle schliefen so lange bis unser Lehrer die Tür zu unserem Schlafsaal aufriss und ein lautes fröhliches „Guten Morgen, es ist Zeit aufzustehen, in 15 Minuten gibt es Frühstück“ in den Saal schmetterte.

 

Überall krochen die Jungs aus ihren Betten und auch Erwin kletterte aus seiner Koje. Ich suchte gerade nach meinem Handtuch, als sich seine Stimme hinter mir hörte. „Na, hat unser Kleiner,“ weiter kam Erwin nicht, denn ich hatte mich umgedreht und schaute ihm direkt in die Augen. In dem Moment spürte ich die Anwesenheit des Grizzlybären, wie er vor mir stand und sich mit den Vorderpranken auf die Brust trommelte. Innerlich begann ich zu Knurren und die Zähne zu fletschen, machte mich gerade und meine Augen wurden schmaler, als ich Erwins Blick standhielt. Der starrte mich plötzlich an, drehte sich abrupt um, nahm seine Kulturtasche und sein Handtuch und stapfte an mir vorbei in Richtung Waschraum.

 

Die anderen Jungs schauten ihm verwundert hinterher und blickten dann zu mir . Auch dieses Mal senkte ich nicht den Kopf, sondern hielt ihren Blicken stand. Da rief auch schon Erwin von der Schlafsaaltür aus: „Los Jungs, kommt. Lasst Anton in Ruhe.“

 

Von da an, hatte ich den Respekt von allen Kindern aus meiner Klasse. Jan und Henrik wollten unbedingt wissen, wie ich es geschafft hatte, so mutig zu werden. Wir drei sind jetzt unsere eigene Clique und vielleicht kommen ja auch noch ein paar andere Kinder dazu.

 

 

Silke Müller-Uloth Juni 2019