Melodie des Lebens

 

 

Es war einmal ein Elfenjunge, der hieß Snorri. Er lebte mit seiner Familie in einem Elfenhügel nahe der Stadt Reykjavik. Auf seinen Ausflügen in die Stadt beobachtete er gerne die Menschen und lauschte ihren Gesprächen, ohne dass sie ihn bemerkten.

 

Sein bester Freund war der alte Gammur, ein Islandpferdewallach, der auf einem Bauernhof nahe des Elfenhügels lebte. Snorri liebte es, sich mit ihm im wahrsten Sinne des Wortes über „Gott und die Welt“ zu unterhalten. Gammur hatte immer eine Antwort auf seine Fragen und erzählte ihm viele Geschichten, so dass Snorri jedes Mal etwas daraus lernte.

 

Eines Tages berichtete Snorri seinem Freund Gammur von seinen letzten Ausflügen in die Stadt. „Die Menschen haben sich verändert“, meinte er. Der alte Wallach schaute ihm aufmerksam ins Gesicht und deutete Snorri weiterzusprechen.

 

Die meisten von ihnen, egal ob Erwachsene oder Kinder hielten sich seit längerer Zeit immer ein rechteckiges flaches Ding, meistens direkt vor das Gesicht und hätten dabei weiße oder schwarze Knöpfe im Ohr. Sie wirkten alle sehr geschäftig, unterhielten sich oft mit diesem Apparat und wenn sie sich mit anderen Menschen trafen, schauten sie auch da die meiste Zeit auf dieses flache Ding. Keiner blickte mehr dem anderen in die Augen. Sie sprachen nicht mehr direkt miteinander, hörten nicht richtig zu und schienen auch ihre Umwelt und die Natur nicht mehr bewusst wahrzunehmen.

 

In den meisten Gesprächen ginge es nur noch darum, was sie alles günstig eingekauft hätten, was sie für eine tolle Wohnung besäßen, wann und wohin sie in den Urlaub führen, welches Video oder Computerspiel das beste sei und, dass sie vor allem nur glücklich sein könnten, wenn sie reich wären und viel Geld besäßen und dann auch nicht mehr so einsam wären.

 

„Gammur, warum sind die Menschen so geworden. Was ist mit ihnen passiert?“ wollte Snorri wissen.

 

Der alte Wallach schaute dem Elfenjungen in die Augen und begann zu erzählen.

 

„Jeder Mensch, wenn er geboren wird, trägt sein eigenes und nur zu ihm gehörendes Lied des Lebens in sich.

 

Als die Menschheit noch nicht so hoch zivilisiert war und nicht von der Natur abgewandt gelebt hat, wussten die Erwachsenen, dass jedes Kind sein Lied finden wird, während es heranwächst. Sie ließen den Kindern die Zeit und den Raum, um sich frei entwickeln zu können.

 

Hatten sie das Lied ihres Lebens gefunden, waren die Kinder eins mit sich, mit allen Menschen, den Tieren, der Pflanzenwelt, den Steinen, den Elementen und sogar mit dem gesamten Universum. Und auch als Erwachsene waren sie in der Lage mit ihren Sinnen alles zu hören, zu fühlen, zu sehen und in Harmonie mit allem zu leben. Jeder wusste genau, warum er geboren wurde und auf der Erde war.

 

Heute hat der größte Teil der Menschen die Melodie ihres Lebens vergessen oder meint sie verloren zu haben.

 

Es ist an der Zeit, dass die Menschen anfangen sich zu erinnern.

 

Wenn sie sich für die Stimme ihres Herzens öffnen, werden sie ihrer Melodie des Lebens wieder bewusstwerden und beginnen dann sich auf ihr Lied des Lebens einzustimmen.

 

Der Weg ist für jeden unterschiedlich, aber wenn sie sich auf dem richtigen Weg befinden, werden sie zügig merken, dass alles um sie herum mit ihnen wieder in Kontakt treten und kommunizieren wird, und ihr Leben sich zum Guten wendet.“

 

Snorri hörte aufmerksam zu und meinte, „Dann hoffe ich, dass die Menschen bald aufwachen und sich auf den Weg machen werden“. Gammur schmunzelte wissend und sprach: „Die Zeit wird kommen – bald.“  

 

                                                                Silke Müller-Uloth Januar 2020